Sparmaßnahmen in der Eingliederungshilfe gehen zu Lasten von Menschen mit Beeinträchtigung
(Frankfurt) Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft für Menschen mit Beeinträchtigung - das sind die Ziele des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), das 2017 eingeführt wurde. Die Kosten sind heute deutlich höher als erwartet, beim einzelnen Menschen kommen jedoch vergleichsweise wenig Verbesserungen an. Der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) plant nun eine deutliche Kürzung der Entgelte - tituliert als „Zukunftssicherungsbeitrag“. Leistungskürzungen wären hier die Folge und würden genau die Menschen benachteiligen, denen das BTHG eigentlich zu Gute kommen sollte.

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) sollte einen gesellschaftlichen Rahmen schaffen, in dem Menschen mit Beeinträchtigungen selbstbestimmt leben und an der Gesellschaft teilhaben können. Durch die Reform sollen der einzelne Mensch und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Mit individuellen Teilhabeplänen wird in jedem Einzelfall genau festgelegt, welche professionelle Unterstützung jemand benötigt, um bei der Arbeit, in der Bildung, beim Wohnen oder in der Freizeit am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Steigende Kosten durch höhere Fallzahlen und Bürokratie
Die Kosten zur Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen steigen seit vielen Jahren kontinuierlich. Eine aktuelle Studie des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) zeigt die Ursachen hierfür detailliert auf. Seit 2015 gibt es in Hessen 10.000 Menschen mehr, die Anspruch auf Eingliederungshilfe haben. Die Mehrkosten werden vom ISG auf 304 Millionen Euro pro Jahr beziffert. Die Verfahren für die Teilhabeplanung führten zu einem enormen Verwaltungsaufwand. So wurden alleine auf Seiten des LWVs und der Kommunen 318 neue Planungs- und Controllingstellen geschaffen. Zusatzkosten laut ISG: rund 95 Millionen Euro. Weiterhin hat der Gesetzgeber die Freigrenzen angehoben, bis zu denen Menschen mit Behinderung ihr eigenes Einkommen zur Finanzierung der Unterstützungsleistungen einsetzen müssen. Ziel war die Armutsgefährdung durch Behinderungen zu senken. Hierfür sind Zusatzkosten in Höhe von 87,5 Millionen Euro entstanden. Vierter wesentlicher Faktor sind die über 10 Jahre anfallenden Personalkostensteigerungen durch tarifliche Entwicklungen sowie die Inflation.
Kritik an Einsparungen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen
Die Regionale Diakonie in Hessen- und Nassau positioniert sich deutlich zu den geplanten Sparmaßnahmen des LWV.
In Ergänzung zur Stellungnahme der Liga der Freien Wohlfahrtspflege macht die RDHN aus der Praxis heraus deutlich:
„Kürzungen des LWV gehen letztlich zu Lasten von Menschen mit Beeinträchtigung“, betont Tobias Lauer, Geschäftsführer der Regionalen Diakonie in Hessen und Nassau.
"Wenn wir als Leistungserbringer jetzt durch den sogenannten „Zukunftssicherungsbeitrag“ de facto auf Gelder verzichten sollen, bedeutet das weniger Personal, weniger innovative Angebote und am Ende weniger Teilhabechancen für die Menschen, um die es eigentlich geht“, so der weitere Geschäftsführer Volker Knöll.
„Mit dem Bundesteilhabegesetz sollte die Selbstbestimmung und Teilhabe gestärkt werden. Stattdessen ist ein System entstanden, in dem Menschen mit Beeinträchtigung ihren Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe rechtfertigen müssen. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen den Zugang zu Unterstützung verlieren - mit fatalen Folgen für ihre Teilhabechancen“, so Tobias Lauer ergänzend.
Systemische Lösung durch Beteiligung des Landes und Stärkung der Infrastruktur vor Ort
Die RDHN befürwortet die Forderung der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Hessen e. V. nach einer strukturellen Lösung der Finanzierungskrise auf Bundes- und Landesebene. Sie fordern, dass das Land Hessen die Kommunen bei der Finanzierung unterstützt, so wie es in anderen Bundesländern auch der Fall ist.
Zusätzliches Geld des Landes ist jedoch nur ein Teil der Lösung. „Aus meiner Sicht ist die reine, so genannte personenzentrierte Finanzierung, eines der Kernprobleme“, so Lauer. „Wenn das Ziel heißt, dass Menschen mit möglichst wenig Unterstützung an der Gesellschaft teilhaben können, müssen wir unsere Infrastruktur und Einrichtungen so fit machen, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen berücksichtigt sind. Das sind Schulen, Jugendzentren, Vereine, ÖPNV und vieles mehr. Das wäre der eigentliche Gedanke von Inklusion. Davon profitieren dann auch alle Menschen und die originären Kosten in der Eingliederungshilfe sinken.“
Eine solche Perspektive würde auch die ambulanten und weniger kostenintensiven Angebote stärken. Dies wäre nicht nur aus finanziellen, sondern vor allem aus inhaltlichen Gründen wichtig. Gerade in der psychosozialen Arbeit zeigt sich täglich, wie wichtig vertrauensvolle, kontinuierliche Beziehungen im gewohnten Umfeld sind. Diese Strukturen dürfen nicht durch kurzsichtige Finanzierungsmodelle gefährdet werden“, betont Tobias Lauer abschließend.
Konsequenzen in der täglichen Arbeit
Als Träger erlebt die Regionale Diakonie in Hessen-Nassau die Finanzierungskrise unmittelbar in ihrer täglichen Arbeit: Mit ihren ambulanten Angeboten für Menschen mit psychischen und Suchterkrankungen erreicht sie aktuell rund 3.000 Menschen in Mittel- und Südhessen, die sie überwiegend in ihrem eigenen Wohnraum und ihrem persönlichen Umfeld unterstützt. Diese Arbeit trägt maßgeblich dazu bei, kostenintensive stationäre Hilfen zu vermeiden. Eine Reduzierung hätte für die Regionale Diakonie zur Folge, den Umfang der Angebote reduzieren zu müssen. Für die Geschäftsführer der RDHN eine Situation, die es mit Blick auf die eigenen, kostengünstigeren ambulanten Angebote zu verhindern gelte.
Über die Regionale Diakonie in Hessen und Nassau gGmbH
Die Regionale Diakonie in Hessen und Nassau gGmbH (RDHN) vereint in aktuell 14 Regionen an mehr als 200 Standorten unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) vielfältige Aufgaben: Von der Migrationshilfe bis zur Schwangerenberatung, von der Wohnungslosenhilfe bis zur regionalen Tafel – nah an den Menschen als erlebbare christliche Nächstenliebe. Unterstützt von der Evangelischen Kirche, gemeinsam mit Kooperations- und Finanzierungspartnern und unterstützt durch Spenden hilft die kurz „RDHN“ genannte Institution im Kirchengebiet Hessen und Nassau.
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Axel Noé
Pressesprecher und Leiter Kommunikation
